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Migration im Migraton – Die Töne zur Geschichte der Zuwanderung nach Vorarlberg als Online-Archiv. Das Startprojekt des Zentrums für Volksmusikforschung Bodenseeraum am Vorarlberger Landeskonservatorium

Evelyn Fink-Mennel

Die Anfänge von Migration und Zuwanderung

Das kleine österreichische Bundesland Vorarlberg bietet seit der im ausgehenden 19. Jahrhundert massiv greifenden Industrialisierung einen offenen Arbeitsmarkt für Menschen aller sozialen Schichten.

Einerseits bildet Vorarlberg vor dem Ersten Weltkrieg die höchstindustrialisierte Insel in der gesamten Habsburger-Monarchie (Pichler 2015: 12), die seit den 1870er Jahren Stellen in großer Zahl für arbeitende Hände vorerst im Baugewerbe und der Textilindustrie bietet. Auch Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst (Finanz- und Zollwache) werden damals von der „einheimischen“ Bevölkerung gerne „fremden Bettlern“ überlassen, da die Verdienstchancen in der Textilindustrie damals weitaus besser sind (Kammerhofer 2008:10).

Andererseits werden ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in Folge der kulturellen Anstrengungen des kleinstädtischen Bürgertums  Arbeitsstellen geschaffen, die nicht aus den eigenen Reihen besetzt werden können und Zuzug von Schlüsselkräften notwendig macht. Die Anfänge und der Aufbau eines öffentlichen Musiklebens in Vorarlberg liegen damals wesentlich in „böhmischen“ Händen. Sei es in gehobenen Positionen als Kapellmeister, Orchesterleiter, ausübende Musiker, Direktoren von Musikgesellschaften und städtischen Musikschulen (Pichler 2016: 11) oder bei Militärmusikern und Wandermusikanten, die Noten, neues Repertoire und Instrumente in die Dörfer tragen (Bösch-Niederer 2015).

Diese genannten Anfänge der bis heute anhaltenden Zuwanderung (die Vorarlberg nach Wien aktuell zum Bundesland mit dem zweithöchsten Migrantenanteil macht), dessen Ursachen und die sich immer wieder ändernden Bedingungen und Umstände von Zuwanderung sind sozialhistorisch in verschiedenen Studien aufbereitet (siehe Beitrag Barnay in diesem Band; weiters v.a. das Informationsportal: www.okay-line.at), eine  Dokumentation der Migrationsgeschichte in Tönen fehlt bislang.

 

Migraton als Fenster in unbekanntere Vorarlberger Musik-Welten

Nach dem viel zitierten Wort von Max Frisch hat man „Arbeitskräfte gerufen“ und es sind „Menschen“ gekommen und geblieben.  Diesen Menschen mit ihrem klingenden, kulturellen Gedächtnis ist www.migraton.at auf der Spur – und will die Ergebnisse auch zugänglich machen. Wunderbar bunt und vielschichtig zeigen sich dabei Musikalien, die Herkunft und Lebensgeschichte  mit einem Klang und Gefühl verbinden. Sie reichen vom intimen Baby-talk, über erinnerte Familienkultur bis zur öffentlichen oder intern gestalteten und gelebten musikalischen Festkultur im Jahreslaufbrauch.

Eine inhaltliche Grundlage dieses Projektes ist eine 2009 auf das ganze Bundesland bezogene Ersterhebung zur Situation der Zuwanderer-Musikkulturen in Vorarlberg, die von Lehrenden und Studierenden der beiden Institutionen, Vorarlberger Landeskonservatorium und Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie der Musikuniversität Wien, durchgeführt wurde (Fink-Mennel / Haid / Hemetek / Sağlam 2010). In Folge dieser Feldforschung entstand ab 2012 eine Aufnahmeserie am Vorarlberger Landeskonservatorium, die von  Evelyn Fink-Mennel mit Unterstützung von Gerhard Bautz (Tonmeister) umgesetzt wurde und für migraton die musikalische Grundlage darstellt.

Dokumentationsarchiv und Musikerbörse

Migraton versteht sich einerseits als tönendes Dokumentationsarchiv historischer und aktueller Zuwanderung und gleichzeitig als Informationsportal: zur Vernetzung mit und zwischen MusikernInnen, hin zu musikinteressierten oder geschichtsbewussten HörerInnen, Veranstaltern, Kulturvermittlern, Studierenden und Pädagogen, die Identität und Differenz im Sinne gleichberechtigter musikalischer „Heimaten“ in ihr Aktionsfeld aufnehmen wollen.

Im Fokus der Dokumentation stehen hierbei nicht nur VertreterInnen der Communities der sog. großen Zuwanderungswellen

  1. Deutsch- und italienischsprachige Zuwanderung aus den Kronländern der damaligen Österreichisch-Ungarischen Monarchie von 1870 bis 1918 (Böhmen, Innerösterreich / Trentino);
  2. Südtiroler Optanten ab 1939;
  3. Fremd- und Zwangsarbeiter während des 2. Weltkrieges;
  4. Innerösterreichische Zuwanderung (= Zuzug aus anderen Österreichischen Bundesländern) der Zwischenkriegszeit und besonders nach 1945;
  5. Zuwanderung aus der Türkei ab 1964;
  6. Zuwanderung ab 1966 aus dem ehemaligen Jugoslawien und in einer zweiten Welle in Folge des Bürgerkrieges der 1990er Jahre,

sondern auch kleinerer Wanderungsbewegungen bzw. Einzel-Wanderungen, wie beispielsweise jene von Pflegepersonal aus den Philippinen oder Musikschullehrern aus Ungarn (beide ab den 1970er Jahren). Andere sind aufgrund privater Kontakte oder im Zuge von Eheschließung mit einer Vorarlbergerin / einem Vorarlberger hierhergezogen. Wiederum andere haben im freien Spiel der Kräfte am Arbeitsmarkt sich nach erfolgreich absolvierter Bewerbung in Vorarlberg niedergelassen.

Zur Sichtbarmachung erhält jedeR AkteurIn seine eigene, wenn auch kleine, aber tönende Homepage auf migraton.at. Die MusikerInnen repräsentieren darin jeweils ihre persönlichen musikalischen Vorlieben. Bei der Darstellung haben wir nicht unterschieden zwischen engagiertem Laien oder BerufsmusikerIn. Wichtig war uns, zusätzlich die jeweilige Migrationsgeschichte zu dokumentieren und mitzureichen und ggf. Informationen zur Musik, oder der Rolle der Musik als Teil der Erinnerungskultur oder Kommunikationsstrategie beizusteuern.

Diese Online-Plattform, die von Frank Broger technisch umgesetzt und betreut wird, versteht sich als offenes, lebendiges Gefäß, das weiter gefüllt werden will und wachsen soll.

Was die Online-Plattform möchte: musikkulturelle Vielfalt und ihre Strahlkraft sicht- und hörbar machen, und die Musik-Welten, die auf kleinstem geografischem Radius hier in Vorarlberg so unmittelbar durch Menschen greifbar werden, in die Kontakt- und Begegnungszone zu rücken.

Angebote für den kulturellen Brückenschlag in der Schulklasse

Ergänzend bietet die Homepage zwei erprobte Konzepte und Materialien für Lehrpersonen zum lustvollen kulturellen Brückenschlag in einer vielsprachigen Schulklasse. Immerhin haben rund 25% aller Volksschulkinder in Vorarlberg eine nicht-deutsche Muttersprache, in einigen Gemeinden sind es bis zu 50 % (www.okay-line.at, Zugriff 1.4.2016). Im Rahmen der Aufnahmeserie haben die AkteurInnen dafür Kinder- und Auszählreime oder Sprüche aus ihrer Erinnerung mitgeteilt, die als (Inspirations)Quelle für eine neu gestaltete „Kniereiter-Auszählreim-Staffel“ (Noten im Onlinearchiv) Verwendung finden können. Für eine Erweiterung der „Ländle-Länder-Schnadahüpfle“ (Noten im Onlinearchiv) oder als akustische Quelle bei Textunsicherheit werden die Zahlen 1-10 in sämtlich verfügbaren Sprachen und Dialekten bereitgestellt.

Literatur:

Bösch-Niederer 2015

Annemarie Bösch-Niederer, „,Polka-Tanz und was der Teufel noch mehr …‘ Auf Spurensuche in historischen Beständen des Vorarlberger Landesarchivs“, in: Evelyn Fink-Mennel / Jörg Maria Ortwein (Hg.), Alles Böhmisch? Musikalische und gesellschaftspolitische Aspekte der „Polka“ als beschwipste Cousine der Marschmusik, Harlekin der Symphoniekonzerte und Großmutter des Rock’n’Roll (Feldkircher Musikgeschichten Band 4), Feldkirch 2015, S. 71–82.

Fink-Mennel / Haid / Hemetek / Sağlam 2010

Evelyn Fink-Mennel, Gerlinde Haid, Ursula Hemetek und Hande Sağlam: „Einwanderer-Kulturen in Vorarlberg. Ein musikalisches Feldforschungsprojekt“, in: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes (2010/59), S. 301–323.

Pichler 2015

Meinrad Pichler, Geschichte Vorarlbergs. Band 3 – Das Land Vorarlberg 1861–2015, Innsbruck 2015.

Pichler 2016

Meinrad Pichler, „Böhmische Musikanten. Schlüsselkräfte beim Aufbau eines Musikschul-

und Orchesterwesens in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in Evelyn Fink-Mennel (Hg.), Weltmusik in Vorarlberg. Der akustische Blick auf 150 Jahre Zuwanderung in Vorarlberg (impuls:vlk 2-2016), S. 11-15 (www.vlk.ac.at/Forschung/impuls:vlk)

Kammerhofer 2008

Andrea und Leopold Kammerhofer, Oberösterreicher in Vorarlberg 1983 –2008. 25 Jahre Verein der Oberösterreicher in Vorarlberg. Mit einer kurzen Geschichte der Landsmannschaft der Oberösterreicher und Salzburger in Vorarlberg 1926–1939, Linz / Bregenz 2008.